Am 26. Oktober, dem Nationalfeiertag, feiert Österreich seine "immerwährende Neutralität" mit viel Show. Doch Russland weckt Ängste, dass das Heer Waffen nicht mehr hauptsächlich nur für Übungen brauchen könnte.

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Zwei einwohnermäßig eher kleine, wohlhabende Länder, die traditionell nicht nur auf ihren Sozialstaat stolz sind, sondern auch auf ihre Distanz zu militärischen Bündnissen: Schweden und Finnland haben mit Österreich manches gemeinsam. Doch angesichts der russischen Aggression hat sich der Wind im Norden gedreht. Was lange als Tabu galt, wird nun ernsthaft diskutiert. Ein Nato-Beitritt der Schweden und Finnen scheint nicht mehr ausgeschlossen.

Und Österreich? Hierzulande dominiert nach wie vor das andere, ans Herz gewachsene N-Wort die Politikerreden. Die Republik stehe einem Völkerrechtsbruch wie dem russischen Angriff auf die Ukraine niemals wertfrei oder gar gleichgültig gegenüber, sondern stehe auf der Seite der Bedrohten, betont Bundeskanzler Karl Nehammer zwar. Doch militärisch gesehen bleibe die Neutralität das Maß der Dinge. Viel Stabilität habe dieses Instrument dem Land beschert.

Alt wie die Kaiserkrone

Nach dem Wortlaut des Neutralitätsgesetzes bedeutet dies: "Österreich wird in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen."

Für einen ÖVP-Politiker ist die Zusicherung nicht selbstverständlich, denn einst wollte die heutige Kanzlerpartei das alte Prinzip entsorgen. Ende der 1990er-Jahre hatte sich der damalige Juniorpartner in einer rot-schwarzen Koalition auf einen Beitritt zur Nato, dem von der USA dominierten nordatlantischen Verteidigungspakt, festgelegt. "Die Neutralität hat ausgedient", stellte Klubobmann Andreas Khol klar, sie gehöre verräumt "wie die Kaiserkrone in der Schatzkammer".

Doch dann ertönte ein Kommando retour. 2007 schlug eine parteieigene Reformergruppe zwar noch einmal einen Bruch mit der sicherheitspolitischen Tradition vor, doch letztlich feierte die Neutralität in den schwarzen Reihen eine Renaissance. Warum, erklärte Khol 2007 im STANDARD so: Erstens sei die Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten Konflikts in Europa massiv gesunken. Zweitens habe die gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik so große Fortschritte gemacht, dass Zusammenarbeit nicht mehr nur in der Nato möglich sei.

Keine Schutzgarantie gegen Aggressor

Nun sind beide Argumente von der Realität überholt worden. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt, eine EU-Armee ist nicht in Sicht. Ob die Aufgabe der Neutralität und der Nato-Beitritt da nicht wieder zum Gebot der Stunde werden? Der einstige außenpolitische Vordenker Khol winkt ab: "Die Bevölkerung ist nicht dazu bereit, die Neutralität aufzugeben." Es bedürfe einer langen Diskussion, um an dieser Stimmungslage je etwas ändern zu können.

Eine Garantie für den Schutz gegen einen etwaigen Aggressor habe Österreich damit nicht, sagt Khol: "Das ist ein Risiko, das wir sehenden Auges eingehen." Allerdings spürten die Bürger, dass die Gefahr "nicht sehr groß ist". Denn die Republik ist – großer Unterschied zu Finnland – von Nato-Staaten umgeben. Wer hierzulande einmarschieren will, muss also durch Gebiet des Bündnisses – und das würde einen Angreifer wohl doch abschrecken.

"Ich glaube, dass wir mit den aktuellen Möglichkeiten auskommen", sagt Khol, zumal Österreich die Neutralität großzügig auslegt: Längst erlaubt die Verfassung etwa die Teilnahme an friedensstiftenden EU-Missionen. Allerdings sei seine Einschätzung angesichts der unberechenbaren Lage nicht in Stein gemeißelt: "Ich verkünde hier keine ewigen Wahrheiten."

Aus dem aktiven politischen Personal widersprechen wenige. Die Neos sind die einzige Parlamentspartei, die an der Neutralität rütteln. "Absurd" sei der Versuch, eine derart überholte Idee in einer völlig veränderten Welt anzuwenden, sagt Vizeklubchef Nikolaus Scherak. Um Europa zu schützen, brauche die EU eine eigene Armee – und an dieser solle Österreich mitbauen.

Nicht auf die USA verlassen

Ob ein Beitritt zur Nato, wo ohnehin 21 von 27 EU-Staaten Mitglied sind, nicht realistischer wäre? Wenn er an den letzten Präsidenten denke, würde er sich ungern auf die USA verlassen, wendet Scherak ein, jetzt sei der Moment da, das Projekt der gemeinsamen Verteidigungspolitik wiederzubeleben. Österreich müsse sich einen Ruck "historischer Tragweite" geben, wie das Deutschland am Sonntag vorgezeigt habe: Nach jahrzehntelanger Vorsicht unter dem Eindruck der NS-Vergangenheit kündigte das Nato-Land an, stark aufzurüsten.

DER STANDARD

Eine gemeinsame Armee sei für Österreich kein Thema, sagt hingegen Nehammer, beim Wehrbudget will er aber nachziehen: Die Zeiten ständiger Kürzungen seien vorbei. Orientiert sich Österreich an Deutschland, das Ausgaben von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anpeilt, wird das teuer. Dafür müsste die Republik den Verteidigungsetat von zuletzt 2,67 Milliarden etwa verdreifachen.

Rücksicht auf die Neutralität nahm die Regierung auch bei einer kurzfristigeren Entscheidung. Als sich die 27 EU-Staaten am Sonntagabend auf die Lieferung von Waffen um 450 Millionen und anderer Ausrüstung um 50 Millionen an die Ukraine einigten, stimmte Österreich nicht mit. Stattdessen enthielten sich die heimischen Vertreter – womit der Beschluss nicht blockiert war. (Gerald John, 1.3.2022)